Schreiben mit links

Im ersten Schuljahr wurde ich von links auf rechts getrimmt – was meine Schreibhand betrifft. Ich frage mich immer wieder einmal – so auch eben heute in der Früh: Was wäre gewesen, wenn…? Was wäre gewesen, wenn ich als ausgesprochene Linkshänderin diese langen Jahre mit links geschrieben hätte? Glauben wir uns die Geschichten, die uns erzählt wurden, oder glauben wir vielmehr den Geschichten, die wir uns selbst erzählen? Und, sollten wir uns eher trauen als den anderen… erzähle ich mir selbst die Geschichten nicht auch immer wieder anders? In der Perspektive, vom Standpunkt her, in der Art und Weise, wie ich sie erzähle? Das heißt, welche Wörter ich zur Hand nehme, welche Assoziationen sie nahelegen und welche Wirkung sie somit entfalten?
Fakt ist, dass ich gezwungen wurde, rechts zu schreiben. Das war mühsam, tat weh – zumindest in der verkrampften Hand, im Arm, im Rücken – vermutlich noch woanders. 
Ich werfe, schneide, nähe, hämmere, spiele Tischtennis wie Federball und messere mit links. Anders geht es gar nicht! Und: Ich male mit links. Jedes Mal nehme ich zwar aus anerzogener Gewohnheit zuallererst den Pinsel, den Malstift in die rechte Hand und verpasse konstant den Moment, wenn er intuitiv in die linke Hand wandert. Das heißt, erstaunt registriere ich irgendwann, dass ich längst mit links male… Ich schwöre. So. Und genau hier setzt mein Denken an und meine Frage ein: Würde ich anders schreiben, denken, reden, Worte kreieren, wenn ich von Anbeginn mit links hätte schreiben dürfen? Schreiben ist ja ein zutiefst kreativer Akt, mein Lieblingsakt… Was wäre anders? Oder früher? Oder gar nicht anders in der Verbindung zur Wort- und damit zur Gefühlskreation, sondern im Leben? 
Mir ist bewusst, dass es darauf keine befriedigende Antwort geben kann. Nun, welches Ziel verfolge ich also mit meiner unbeantwortbaren Frage? Und ist sie überhaupt zeitgemäß? Spielt sie eine Rolle, wenn wir eh alle auf dem Computer beidhändig und damit gleichberechtigt schreiben? Was ist damals passiert im Kopf, im Gehirn – vielleicht sogar im Herzen? Hat es mich gestärkt fürs Leben, diese Hürde zu nehmen? Oder wurde damit eine Spur verlegt, die unauffindbar bleibt? Und mit diesen Fragen gelange ich wieder zum Anfang dieses Fragments: Wir konstruieren unsere Verfasstheit – je nach dem, wie wir uns unsere Geschichten erzählen – und in dem Fall, welche Hilfsantwort ich auf diese Fragen finde.
P.S.: Selbstverständlich kann ich noch mit links schreiben; aber das tue ich wiederum – offensichtlich ganz anders als beim Malen – nur ungern. Meine Schreibschrift gehört in die Grundschule; sie ist mir fremd. Oder werde ich mit dem Schmerz von damals konfrontiert? Und wie viele teilen diese Geschichte?… und schon könnte ich eine zweite Geschichte erzählen. 

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