Archiv für den Monat: Mai 2020

Die Antigone des Amazonas

Nicht selten wird bei einer Krise an die griechische Tragödie erinnert. Warum? Weil man hofft, dass sich das Publikum des Schauspiels einer Katharsis unterzieht. Übertragen auf die Welt außerhalb des Theaters bedeutet dies, uns als Protagonisten unseres Alltags und unserer Gesellschaft zur Beteiligung zu bewegen. Indem wir als eben als ‚beteiligte‘ Zuschauer – so die grundlegende Definition der Poetik nach Aristoteles – all das Drama, den Schrecken, Tod, Unrecht und Unheil auf der Bühne miterleben, kann sich eine verändernde Haltung entfalten. Mit der Chance zu mehr Feingefühl und Reflexion der eigenen zerstörerischen Anteile. Mit der Chance, sich gegen Missstände und Ungerechtigkeit aufzulehnen sowie für humanitäre Ziele einzusetzen. Mit dem Ziel: die drohende Katastrophe in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft abzuwehren, um den Untergang zu verhindern. Zugegeben, das ist hier sehr verkürzt dargestellt, aber das ist mir bewusst. Worauf ich hinauswill, ist der Hinweis auf die beeindruckendste Rede in Coronazeiten: die Online-Eröffnungsrede der Wiener Festwochen durch Kay Sara. 
Uns ist Kay Sara vor allem als indigene Aktivistin bekannt, die sich lange vor Covid19 mit Haut und Haar der Rettung des Amazonas mit all ihren Konsequenzen verschrieben hat. Aber sie ist eben deutlich mehr. „Wie jeder bin ich eine Mischung aus vielem: Ich bin Tukana und Tariana, eine Frau, eine Aktivistin, eine Künstlerin. Ich spreche als all das zu Ihnen,“ sagt sie selbst und erklärt, was ihr Name bedeutet: „Die sich um andere sorgt.“ Ihre Sorge teilt sie also in dem Fall in Personalunion als Antigone des Amazonas und als indigene Aktivistin mit ihrem virtuellen Publikum. Und, wie sie es schafft, in knapp zwölf Minuten ihre Finger klar, verständlich, nachvollziehbar, unwiderlegbar und unwiderruflich auf die Wunden zu legen, die mit der Abholzung der Regenwälder verbunden sind, ist einmalig. Dramaturgisch sensationell aufbereitet. Ich meine dies aber nicht im künstlerischen Sinne der griechischen Tragödie einer Antigone, sondern hier spricht eine Frau in der Kunst, die auf dem Boden, dem Grund ihrer Seele aufsetzt, und damit zutiefst wahrhaftig redet. 
Hier der Link zu ihrer Rede: https://www.festwochen.at/festwochen-2020-reframed-against-integration
Wer die Rede nicht nur sehen und hören, sondern auch lesen möchte, hier der zusätzliche Link zur deutschen Transkription ihrer Rede: https://www.derstandard.at/story/2000117523875/against-integration-dieser-wahnsinn-muss-aufhoeren

Großzügige Gastgeberin des schreibenden Herzens

„Der größte Raum der Welt ist ein DIN-A-4 Blatt Papier und ein Stift weiß mehr als ich.“ Diese Worte gehören Barbara Pachl-Eberhart. Autorin, Rednerin, Schreibpädagogin, LebensKünstlerin. Sie schenkte sie mir, als ich ihrem Vortrag „Wandelworte“ lauschte – zu finden in der Mediathek auf ihrer Website. Aber sie schenkte mir deutlich mehr. Indem sie mich mit dieser Metapher an das Schreiben als ein ganz besonderes, erfüllendes und zu füllendes Universum erinnerte, kam ich mir wieder selbst zuhanden und habe diese Worte hier geschrieben. 
Ihren zugewandten Weltenraum stellt sie sich selbst und jeder Leserin, jedem Leser zur Verfügung. Mit ihren vier Büchern. Drei habe ich gelesen und kann sie nur wärmstens empfehlen. 
In ihrem ersten Buch und doppelten Bestseller* „Vier minus drei“ lässt sie uns teilhaben an ihrer Trauerzeit, ausgelöst durch den eben nur fast unbeschreiblichen Verlust ihrer zwei Kinder und ihres Mannes infolge eines entsetzlichen Unfalls im Jahr 2008. Indem sie dieses Trauma schreibend verarbeitet und letztlich Leben und Tod auf einmalige Weise verbindet – drohend, am Verstummen von Worten zu ersticken und im lauten Schweigen zu versinken – verwandelt sie nicht nur den Tod ihrer Familie, sondern wird „selbst verwandelt“, wie sie es nennt. Mit ihrem zweiten Buch „Warum gerade du?“ lädt sie uns – ihre persönliche Erfahrung transformierend – ein, Trauer vollumfänglich und integrierend, durchaus alltagstauglich wie anderen zumutend zu begreifen. Sie klopft damit letztlich an die jedem Menschen innewohnende Kraft, in Trauer zutiefst lebendig sein zu können… Diese einladende Geste ist nicht nur ungemein tröstlich, so gütig geschrieben und nie wertend, sondern offen sowie gleichzeitig überaus präzise formuliert, sodass der Kopf wach ist, die Seele gestreichelt und der stimmige Bauch genährt werden. Ein rundum sattes Erlebnis. Schließlich stöbere ich immer wieder in ihrem Buch „Federleicht“ – ein ganzer Kosmos von Schreibgeschenken fürs Leben. DANKE, liebe Barbara Pachl-Eberhart, für diese hinreißenden Geschenke. Hier der Link zu ihrer Website: https://www.barbara-pachl-eberhart.at
*Spiegelbestseller und Jahresbestseller (2. Platz) in Österreich 2010

Schreiben mit links

Im ersten Schuljahr wurde ich von links auf rechts getrimmt – was meine Schreibhand betrifft. Ich frage mich immer wieder einmal – so auch eben heute in der Früh: Was wäre gewesen, wenn…? Was wäre gewesen, wenn ich als ausgesprochene Linkshänderin diese langen Jahre mit links geschrieben hätte? Glauben wir uns die Geschichten, die uns erzählt wurden, oder glauben wir vielmehr den Geschichten, die wir uns selbst erzählen? Und, sollten wir uns eher trauen als den anderen… erzähle ich mir selbst die Geschichten nicht auch immer wieder anders? In der Perspektive, vom Standpunkt her, in der Art und Weise, wie ich sie erzähle? Das heißt, welche Wörter ich zur Hand nehme, welche Assoziationen sie nahelegen und welche Wirkung sie somit entfalten?
Fakt ist, dass ich gezwungen wurde, rechts zu schreiben. Das war mühsam, tat weh – zumindest in der verkrampften Hand, im Arm, im Rücken – vermutlich noch woanders. 
Ich werfe, schneide, nähe, hämmere, spiele Tischtennis wie Federball und messere mit links. Anders geht es gar nicht! Und: Ich male mit links. Jedes Mal nehme ich zwar aus anerzogener Gewohnheit zuallererst den Pinsel, den Malstift in die rechte Hand und verpasse konstant den Moment, wenn er intuitiv in die linke Hand wandert. Das heißt, erstaunt registriere ich irgendwann, dass ich längst mit links male… Ich schwöre. So. Und genau hier setzt mein Denken an und meine Frage ein: Würde ich anders schreiben, denken, reden, Worte kreieren, wenn ich von Anbeginn mit links hätte schreiben dürfen? Schreiben ist ja ein zutiefst kreativer Akt, mein Lieblingsakt… Was wäre anders? Oder früher? Oder gar nicht anders in der Verbindung zur Wort- und damit zur Gefühlskreation, sondern im Leben? 
Mir ist bewusst, dass es darauf keine befriedigende Antwort geben kann. Nun, welches Ziel verfolge ich also mit meiner unbeantwortbaren Frage? Und ist sie überhaupt zeitgemäß? Spielt sie eine Rolle, wenn wir eh alle auf dem Computer beidhändig und damit gleichberechtigt schreiben? Was ist damals passiert im Kopf, im Gehirn – vielleicht sogar im Herzen? Hat es mich gestärkt fürs Leben, diese Hürde zu nehmen? Oder wurde damit eine Spur verlegt, die unauffindbar bleibt? Und mit diesen Fragen gelange ich wieder zum Anfang dieses Fragments: Wir konstruieren unsere Verfasstheit – je nach dem, wie wir uns unsere Geschichten erzählen – und in dem Fall, welche Hilfsantwort ich auf diese Fragen finde.
P.S.: Selbstverständlich kann ich noch mit links schreiben; aber das tue ich wiederum – offensichtlich ganz anders als beim Malen – nur ungern. Meine Schreibschrift gehört in die Grundschule; sie ist mir fremd. Oder werde ich mit dem Schmerz von damals konfrontiert? Und wie viele teilen diese Geschichte?… und schon könnte ich eine zweite Geschichte erzählen. 

Weder Fisch noch Fleisch aber Magie

Ich liebe das Semikolon. Ja, ich bin geradezu verliebt in dieses so selten verwendete Satzzeichen. Es ist weder Komma noch Punkt. Schon allein das Wort klingt nach Magie. Der Strichpunkt, wie das Semikolon auf profane Weise genannt wird, rührt an meine schreibende Seele. Das Semikolon ist in seiner Bedeutung schwächer als der Punkt; gleichzeitig ist es stärker als das Komma. Warum existiert es bloß? Mittels des Semikolon schaffe ich eine Verbindung und eine Trennung zugleich – aber sozusagen auf Augenhöhe, auf gleichberechtigter Ebene. Wie herrlich ist das denn! 
Mit diesem wunderbaren, einzigen Zeichen ; verfüge ich über eine zutiefst demokratische Dimension beim Schreiben. Ich verbinde zwei Sätze mittels Semikolon, wenn sie sich in ihrer Aussage ergänzen, ja wohlmöglich auch widersprechen mögen. Aber indem ich sie sprachlich wie bildlich weder in eine hierarchische Reihenfolge bringe – das schafft unter anderem das Komma – noch sie durch den Punkt, der das Satzende anzeigt, trenne, gelingt mir ein optischer Zauber, der nachwirkt und Resonanz findet. Nicht zuletzt auch dadurch, dass ich beim Komma das Verb schlabbern kann; beim Punkt brauche ich ein Verb, ein sogenanntes Tätigkeitswort; mit dem Semikolon, das ebenso nach einem Verb im Satz verlangt, erlaube ich mir, dass diese lebendigen Worte und Aussagen ebenbürtig schwingen. Und dieser Tanz gefällt mir.