Über fünfzig Jahre

Gestern hat mich meine älteste Freundin besucht, die nun mehr als ihr halbes Leben in Südfrankreich lebt. Im Kindergarten war es, als wir unsere Bande schlossen – vermutlich, weil wir Beide jene Mädchen waren, die sich unter der Regide von Schwester Agnesia deutlich öfters in der Strafecke wiederfanden als andere Zeitgenossen. Das fällt auf. Das verbindet. Wir gingen auf dieselbe katholische Grundschule, aber schon nicht mehr auf dasselbe Gymnasium. Sie studierte in Freiburg, ich in Berlin. Sie heiratete ihre große Liebe, einen Franzosen, den ich umgehend in mein Herz schloss. Ich erinnere mich an ihre Hochzeit als die mit Abstand romantischste, genussvollste, längste und tanzreichste, die ich je erlebt habe. Sie kann das – das Leben feiern. Und ihre zwei Töchter sind ihr ein und alles – was sonst, während ich kinderlos geblieben bin. Wir haben vieles gemein, genauso, wie wir uns unterscheiden. Auf die Distanz bleibt es gar nicht aus, dass es mittlerweile deutlich mehr Jahre ungeteilten Lebens gibt, als solche, die wir als Freundinnen einander auf Schritt und Tritt begleiteten. Der Verbindungsfaden ist nie abgerissen. Und genau diese Treue ist für mich von unschätzbarem Wert. Nicht etwa, weil wir diesen Wert meinen, leben zu müssen, sondern weil wir es einfach tun. Ungefragt, selbstverständlich, natürlich. 
Wir sind einander so frühes Gedächtnis und Erinnerung; ich fühle, wie prägend es ist. Es folgten in der Pubertät weitere Freundinnen, mit denen ich bis heute verbunden bin. Aber mit niemand anderem als mit ihr kann ich mich spielend zurückversetzen in das Kind, das sich zum Teenie entwickelt und weiter von der Jugendlichen zur Frau. Dieser gesamte Kosmos von Häutungen, mal unerträglich schmerzhaft wie so unendlich befreiend, von den ungezählten ersten Malen – der Täuschung und des Staunens, des Verliebtseins und des Verlusts, des empfundenen Scheiterns und des persönlichen Erfolgs, Verbote überschreitend und Individualität gestaltend… Von unserem Geheim und unserer erfundenen Geheimsprache, unserem Erkennungsruf, der nur uns gehörte und den ich bis heute hören kann.
Ohne es aus- oder auch nur hin und wieder anzusprechen, schwingen sie mit diese unzähligen kleinen und großen Ereignisse auf dem Weg zur heranwachsenden Persönlichkeit.
Und dann sitzen wir wie gestern stundenlang zusammen – auf dem Balkon, bringen uns gegenseitig auf den neuesten Stand und versuchen erzählend aufzuholen, was sich von Treffen zu Treffen, von Telefonat zu Telefonat ereignet hat. Und genau das ist es, was mich heute Morgen melancholisch stimmt. Es berührt die Vergänglichkeit von Zeit… Und ebenso dies: Wann haben wir das letzte Mal etwas zusammen erlebt? Die Zeit reicht nie – weder zum Austausch noch um gemeinsam unterwegs zu sein oder einfach ein paar Tage unter einem Dach zu verbringen. Ich weiß, sie wird diese Zeilen lesen, und ich weiß, sie wird diese Zeilen bewegen. Und schließlich weiß ich: ich wäre von Herzen willkommen in ihrem schönen Haus in Südfrankreich.

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