Archiv für den Monat: Juli 2020

Der stille Ort – Version III –

Manchmal ist mir, als ob der stille Ort, jener Platz in mir, wo alles in Ordnung scheint, alles heil ist, immer war und immer sein wird, als ob der stille Ort laut ist. Um ehrlich zu sein, es gibt sogar Stunden, da ist mir, als ob dort jemand schreit. Klingt dramatisch. Ist es dann auch. 
Na, jedenfalls ist er heute alles andere als still. Was will da zu Wort kommen und von mir gehört werden? 
Ich mache mir Gedanken und fange an zu schwimmen. Falsch, so stimmt‘s nicht. Zuerst schwimme ich und fange später an zu denken. Balance ist das Stichwort, das ins Wanken geraten ist. Diese allseits gepriesene innere Stimmigkeit ist ins Ungleichgewicht geschlittert. Vermutlich schon länger, so lautet meine These, warum sich da jemand von diesem Ort aus unwiderruflich meldet und an mein Gehirn funkt: „Mach was. Kümmere dich. Tu endlich was.“ Zugegeben, der Ton ist streng, unangebracht, überflüssig.
Immer wieder lande ich bei der Frage, vielmehr bei den Fragen, die zumindest genau in diesen Momenten niemand beantwortet. Wann ist Zeit für Ablenkung , wann für Auseinandersetzung? Ruhe und Muße oder eher Bewegung und einfach nur raus? Was überfordert mich, was unterfordert mich? Spannung oder Entspannung aufbauen? Liegen oder laufen? Schlafen, lesen oder schreiben? Anpacken oder loslassen?
Und es geht durchaus noch weiter – darüber reden, jemand anrufen und einweihen, mich mittteilen oder eher schweigen, abwarten, spüren und aushalten? 
Ich gestehe: Menschen, die von ihrer stimmigen Balance anderen gegenüber lauthals verlautbaren, vom inneren Gleichgewicht predigen, sind mir zutiefst suspekt. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass diejenigen, die wirklich in sich ausgeglichener unterwegs sind, es gar nicht in den Sinn kommt, darüber zu preisen. Stimmig scheint ihnen, dass es eben jene schwimmende Momente gibt. Das Pendel schlägt mal stärker, mal schwächer aus – das gehört dazu, wenn man balanciert und bisweilen bilanziert. 
Manches ist im Lot, anderes im Scheinlot, und es darf korrigiert oder gar gegengesteuert werden; einiges ist instabil und erzeugt Schwindel. Dies zählt unvermeidlich zur Schwerkraft und braucht Zuwendung; jenes zählt zur Fliehkraft und darf gehen. Kurzum: Sie sind sich der widersprüchlich wirkenden Kräfte bewusst. 
Diese Erkenntnis hilft mir in solchen Momenten wie heute Morgen ehrlich gesagt wenig… was mir jedoch immer bleibt, ist die Gewissheit: Es gibt ihn, den Ort – nach wie vor. Er geht definitiv nicht weg. Und ich darf alles – nach innen lauschen und im Außen wägen, Erschöpfung wahrnehmen und kraftschöpfend suchen. So ist es nämlich: Was letztlich bleibt, ist, sich auszuprobieren, was in dem Augenblick – und sei es, dass er über Stunden im Zweifel steht – guttun könnte und vielleicht wieder stückchenweise ausgleicht, vielleicht aber auch erst einmal nicht. Es ist okay, wie es ist.

Der stille Ort – Version II –

Da kämpfst du Jahre, dich zu schützen und fällst immer wieder hin und holst dir gefühlt mehr als eine blutige Nase, weil du es erneut zugelassen hast, dich verletzen zu lassen.
Deine Grenzen überschreitend und deine Grenzen nicht gewahrt hast. Deine Haut hast du verbrennen lassen und gleichzeitig ist dir immer wieder so kalt gewesen. Verfroren kalt. Hast fast dein Herz brechen lassen vor dir selbst. Kurzweilig. Manchmal auch für länger. 
Und immer wieder dich selbst verantwortlich gemacht, dass es passiert. Und hast dich geschämt. Hast Angst gehabt – und wie! Dass du es wieder und wieder zulässt. Dass du nicht aufgepasst hast. Dass du idealisiert hast. Dass du geglaubt hast, statt genau hinzusehen. Hinzuspüren. Dass du dich wieder und wieder selbst infrage gestellt hast statt die Situation hinterfragt, die andere Person. Die Lage. Den Gemütszustand. 
Ja, du bist hingegangen und hast es dir hergeleitet, und damit auch auf eine Art entschuldigt, verziehen, losgelassen und hingewendet – aufgrund der Geschichte, des Schicksals, der Umstände, des vergangenen Leids. Statt einfach wahrzunehmen, hast du es immer wieder und erneut persönlich genommen, dir den Arsch aufgerissen und Zeit und Gedanken und Entschuldigungen investiert. Früher dazu dich noch selbst verletzt und damit auch andere, wenn du getrunken hast… Wenn es nicht dramatisch genug war, hast du es dramatischer gemacht, um vermeintlich bedeutsam zu sein. An Bedeutung zu gewinnen. Hast es übertrieben und damit dich selbst wieder zurückgetrieben in unheilvolle Beziehungen. In das kränkende Umfeld. In das Land der Entwertungen und hast selbst gewertet. Und dich schuldig gefühlt. Immer wieder verdammt schuldig und verantwortlich für die Misere. Und dein Missgeschick. Für deine Fehler. Dich deiner Feinfühligkeit geschämt und versucht sie selbst als Kränkung zu werten.
Anstatt: es einfach anzunehmen. Hinzunehmen. Für Bares, fürwahr und vielleicht damit sogar für Rares zu halten. Dass das, was du als Manko betrachtest, als Schwäche, als zu Schützendes, besser Zurückzuhaltendes behandelst, deine eigentliche Quelle ist. Die, die offen ist und offengehalten werden darf, zugewandt und verwandt mit der Natur und ihren Bäumen, Gräsern und dem Laub, ihren flirrenden buntgefleckten Blumenwiesen, ihren Bergen und Raubvögeln, ihren zauberhaften Schmetterlingen und dem roten zarten Mohn… und mit ihren uralten Steinen und den das Meeresrauschen beherbergenden Muscheln, die du so liebst.
Der stille Ort, die fließende Quelle allem Künstlerischen, aller Melancholie und dem Leiden an der Welt mit ihren Kriegen, Krisen und Menschenquälereien. Genau, Du hältst es fast nicht aus, aber indem du sie als solches wahrnimmst, nimmst du dich selbst beherzt und kommst dir zuhanden für das, was dich berührt, was dich bewegt auf deinem Weg, den es zu gehen gilt. Weil es deiner ist. Weil er der einzige für dich ist. Weil sie nur so heilen, die Wunden, die nicht zu verwechseln sind mit der Quelle, die nicht versiegt. Weil es das ist, was dich interessiert. Ja, vielleicht sogar das, was dich ausmacht, aber nicht, um vereinzelt zu sein, sondern du es ebenso als den Ort empfindest, der dich verbindet. Dich zutiefst vertraut macht mit denjenigen, die du liebst und die dich lieben. Diese Stelle in dir, die dir den Zugang vermittelt, ebnet und wegweist zu den großartig geschriebenen Worten in Poesie, zu den Zeichen zwischen den Zeilen im Text, der Atempause am Telefon, des Schweigens deines Gegenübers und der tieferen Schicht auf der Leinwand, hinter den Figuren der Geschichte, der Synkope einer Sinfonie, des kleinen Details auf einer Fotografie. Und damit landest du unverhohlen bei den verlorenen Chancen und Gelegenheiten. Gleichzeitig aber auch bei deiner Sehnsucht, diese Zeilen nicht wieder zu vergessen, sondern zu schöpfen, zu schöpfen, zu schöpfen… Nicht schöpfend aus der Anerkennung, der Delegation, des Wahrgenommen werden von anderen, im Außen, sondern wert- und wortschöpfend aus der unerschöpflichen Quelle in der Begegnung von innen im Verbund. Eins sein und verknüpft, aber nicht Kräfte raubend, sondern sammelnd und damit tröstend und betraut mit dir selbst. Dabei magst du dich als trennend erleben von anderen, aber letztlich ist es das, was es ist. Individuum sein heißt nun einmal unteilbar sein. Ob es dir gelingt, weiß ich nicht, aber ich wünsche es dir aus ganzem Herzen. 

Über fünfzig Jahre

Gestern hat mich meine älteste Freundin besucht, die nun mehr als ihr halbes Leben in Südfrankreich lebt. Im Kindergarten war es, als wir unsere Bande schlossen – vermutlich, weil wir Beide jene Mädchen waren, die sich unter der Regide von Schwester Agnesia deutlich öfters in der Strafecke wiederfanden als andere Zeitgenossen. Das fällt auf. Das verbindet. Wir gingen auf dieselbe katholische Grundschule, aber schon nicht mehr auf dasselbe Gymnasium. Sie studierte in Freiburg, ich in Berlin. Sie heiratete ihre große Liebe, einen Franzosen, den ich umgehend in mein Herz schloss. Ich erinnere mich an ihre Hochzeit als die mit Abstand romantischste, genussvollste, längste und tanzreichste, die ich je erlebt habe. Sie kann das – das Leben feiern. Und ihre zwei Töchter sind ihr ein und alles – was sonst, während ich kinderlos geblieben bin. Wir haben vieles gemein, genauso, wie wir uns unterscheiden. Auf die Distanz bleibt es gar nicht aus, dass es mittlerweile deutlich mehr Jahre ungeteilten Lebens gibt, als solche, die wir als Freundinnen einander auf Schritt und Tritt begleiteten. Der Verbindungsfaden ist nie abgerissen. Und genau diese Treue ist für mich von unschätzbarem Wert. Nicht etwa, weil wir diesen Wert meinen, leben zu müssen, sondern weil wir es einfach tun. Ungefragt, selbstverständlich, natürlich. 
Wir sind einander so frühes Gedächtnis und Erinnerung; ich fühle, wie prägend es ist. Es folgten in der Pubertät weitere Freundinnen, mit denen ich bis heute verbunden bin. Aber mit niemand anderem als mit ihr kann ich mich spielend zurückversetzen in das Kind, das sich zum Teenie entwickelt und weiter von der Jugendlichen zur Frau. Dieser gesamte Kosmos von Häutungen, mal unerträglich schmerzhaft wie so unendlich befreiend, von den ungezählten ersten Malen – der Täuschung und des Staunens, des Verliebtseins und des Verlusts, des empfundenen Scheiterns und des persönlichen Erfolgs, Verbote überschreitend und Individualität gestaltend… Von unserem Geheim und unserer erfundenen Geheimsprache, unserem Erkennungsruf, der nur uns gehörte und den ich bis heute hören kann.
Ohne es aus- oder auch nur hin und wieder anzusprechen, schwingen sie mit diese unzähligen kleinen und großen Ereignisse auf dem Weg zur heranwachsenden Persönlichkeit.
Und dann sitzen wir wie gestern stundenlang zusammen – auf dem Balkon, bringen uns gegenseitig auf den neuesten Stand und versuchen erzählend aufzuholen, was sich von Treffen zu Treffen, von Telefonat zu Telefonat ereignet hat. Und genau das ist es, was mich heute Morgen melancholisch stimmt. Es berührt die Vergänglichkeit von Zeit… Und ebenso dies: Wann haben wir das letzte Mal etwas zusammen erlebt? Die Zeit reicht nie – weder zum Austausch noch um gemeinsam unterwegs zu sein oder einfach ein paar Tage unter einem Dach zu verbringen. Ich weiß, sie wird diese Zeilen lesen, und ich weiß, sie wird diese Zeilen bewegen. Und schließlich weiß ich: ich wäre von Herzen willkommen in ihrem schönen Haus in Südfrankreich.