Archiv der Kategorie: Augenblicke & Blickwinkel

Ausschwingen zwischen den Jahren

Schmeckst du manchmal auch das Salz der Tränen, wenn jemand dir gegenüber weint? Spürst du es ebenso – das Verschlossene, das nicht Wahrhabende, die Grenzen sowie das unerschöpfliche Potenzial und die Ressourcen? 
Das Potenzial ist verführerisch und verleiht dennoch nur bei geöffneten Türen Flügel.
Und das Abgegrenzte, das Dunkle reicht trotz allem unter meine Haut.
Irren mag ich mich im Detail, verflochten sind sie aber – die vielen Fasern hin zu dem Anderen.
Es reicht ein Satz, der da geschrieben steht. Und vielmehr, wie er formuliert ist.
Eine Stimme am Telefon. Eine Geste bei der Begrüßung. Ein Blick. Eine Körperhaltung. Ein Foto. Ein gemaltes Bild. Ein Schweigen. Ein Lachen – zu laut, um wahrhaftig zu sein – und ein Lächeln eines Fremden, das den Tag rettet. 
Ich sehne mich nach Verbindung und nach Freiheit. Nach Unbeschwertheit gleichermaßen wie nach Tiefe. Nach Austausch wie nach Stille. Nach Auseinandersetzung wie auch nach Harmonie. Hin zu den Bergen und gleichzeitig zur See. In die Höhe zu den Steinziegen über die Baumgrenze hinaus wie zu den rasselnden kleinen Wellen, die Steinchen und Muscheln spülen, hin zu den Füßen am Ufer des Meeres. 
In die Ferne – weg von zuhause – und doch eigentlich zu nichts anderem als heimwärts zu mir. Fernweh als heimliche Lust zu entschwinden, aber bei purer Gesundheit. Die Schritte der Bergschuhe als Ausdruck, sich zu bewegen. Zu entfliehen der Flut von Sorgen, Ängsten und der fehlenden Traute. Aber, vor was? Und mitunter, ja: vor wem? 
Ich hab‘ mich genähert – immer mehr in diesem Jahr –, die Frucht mich zu stellen, und bin gleichzeitig erschrocken über ein und denselben Ton meiner klagenden Zeilen vergangener Jahre. 
Aber der Halt als Stütze und das Halt! im Sinne von Grenze zeigen sich immer deutlicher am Horizont meines Herzens und ebnen den Weg, der vor mir liegt – zu meinen Sohlen wie für die weiterschreibende Feder, die mit meiner Seele schwingt. 

Über fünfzig Jahre

Gestern hat mich meine älteste Freundin besucht, die nun mehr als ihr halbes Leben in Südfrankreich lebt. Im Kindergarten war es, als wir unsere Bande schlossen – vermutlich, weil wir Beide jene Mädchen waren, die sich unter der Regide von Schwester Agnesia deutlich öfters in der Strafecke wiederfanden als andere Zeitgenossen. Das fällt auf. Das verbindet. Wir gingen auf dieselbe katholische Grundschule, aber schon nicht mehr auf dasselbe Gymnasium. Sie studierte in Freiburg, ich in Berlin. Sie heiratete ihre große Liebe, einen Franzosen, den ich umgehend in mein Herz schloss. Ich erinnere mich an ihre Hochzeit als die mit Abstand romantischste, genussvollste, längste und tanzreichste, die ich je erlebt habe. Sie kann das – das Leben feiern. Und ihre zwei Töchter sind ihr ein und alles – was sonst, während ich kinderlos geblieben bin. Wir haben vieles gemein, genauso, wie wir uns unterscheiden. Auf die Distanz bleibt es gar nicht aus, dass es mittlerweile deutlich mehr Jahre ungeteilten Lebens gibt, als solche, die wir als Freundinnen einander auf Schritt und Tritt begleiteten. Der Verbindungsfaden ist nie abgerissen. Und genau diese Treue ist für mich von unschätzbarem Wert. Nicht etwa, weil wir diesen Wert meinen, leben zu müssen, sondern weil wir es einfach tun. Ungefragt, selbstverständlich, natürlich. 
Wir sind einander so frühes Gedächtnis und Erinnerung; ich fühle, wie prägend es ist. Es folgten in der Pubertät weitere Freundinnen, mit denen ich bis heute verbunden bin. Aber mit niemand anderem als mit ihr kann ich mich spielend zurückversetzen in das Kind, das sich zum Teenie entwickelt und weiter von der Jugendlichen zur Frau. Dieser gesamte Kosmos von Häutungen, mal unerträglich schmerzhaft wie so unendlich befreiend, von den ungezählten ersten Malen – der Täuschung und des Staunens, des Verliebtseins und des Verlusts, des empfundenen Scheiterns und des persönlichen Erfolgs, Verbote überschreitend und Individualität gestaltend… Von unserem Geheim und unserer erfundenen Geheimsprache, unserem Erkennungsruf, der nur uns gehörte und den ich bis heute hören kann.
Ohne es aus- oder auch nur hin und wieder anzusprechen, schwingen sie mit diese unzähligen kleinen und großen Ereignisse auf dem Weg zur heranwachsenden Persönlichkeit.
Und dann sitzen wir wie gestern stundenlang zusammen – auf dem Balkon, bringen uns gegenseitig auf den neuesten Stand und versuchen erzählend aufzuholen, was sich von Treffen zu Treffen, von Telefonat zu Telefonat ereignet hat. Und genau das ist es, was mich heute Morgen melancholisch stimmt. Es berührt die Vergänglichkeit von Zeit… Und ebenso dies: Wann haben wir das letzte Mal etwas zusammen erlebt? Die Zeit reicht nie – weder zum Austausch noch um gemeinsam unterwegs zu sein oder einfach ein paar Tage unter einem Dach zu verbringen. Ich weiß, sie wird diese Zeilen lesen, und ich weiß, sie wird diese Zeilen bewegen. Und schließlich weiß ich: ich wäre von Herzen willkommen in ihrem schönen Haus in Südfrankreich.

Die Antigone des Amazonas

Nicht selten wird bei einer Krise an die griechische Tragödie erinnert. Warum? Weil man hofft, dass sich das Publikum des Schauspiels einer Katharsis unterzieht. Übertragen auf die Welt außerhalb des Theaters bedeutet dies, uns als Protagonisten unseres Alltags und unserer Gesellschaft zur Beteiligung zu bewegen. Indem wir als eben als ‚beteiligte‘ Zuschauer – so die grundlegende Definition der Poetik nach Aristoteles – all das Drama, den Schrecken, Tod, Unrecht und Unheil auf der Bühne miterleben, kann sich eine verändernde Haltung entfalten. Mit der Chance zu mehr Feingefühl und Reflexion der eigenen zerstörerischen Anteile. Mit der Chance, sich gegen Missstände und Ungerechtigkeit aufzulehnen sowie für humanitäre Ziele einzusetzen. Mit dem Ziel: die drohende Katastrophe in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft abzuwehren, um den Untergang zu verhindern. Zugegeben, das ist hier sehr verkürzt dargestellt, aber das ist mir bewusst. Worauf ich hinauswill, ist der Hinweis auf die beeindruckendste Rede in Coronazeiten: die Online-Eröffnungsrede der Wiener Festwochen durch Kay Sara. 
Uns ist Kay Sara vor allem als indigene Aktivistin bekannt, die sich lange vor Covid19 mit Haut und Haar der Rettung des Amazonas mit all ihren Konsequenzen verschrieben hat. Aber sie ist eben deutlich mehr. „Wie jeder bin ich eine Mischung aus vielem: Ich bin Tukana und Tariana, eine Frau, eine Aktivistin, eine Künstlerin. Ich spreche als all das zu Ihnen,“ sagt sie selbst und erklärt, was ihr Name bedeutet: „Die sich um andere sorgt.“ Ihre Sorge teilt sie also in dem Fall in Personalunion als Antigone des Amazonas und als indigene Aktivistin mit ihrem virtuellen Publikum. Und, wie sie es schafft, in knapp zwölf Minuten ihre Finger klar, verständlich, nachvollziehbar, unwiderlegbar und unwiderruflich auf die Wunden zu legen, die mit der Abholzung der Regenwälder verbunden sind, ist einmalig. Dramaturgisch sensationell aufbereitet. Ich meine dies aber nicht im künstlerischen Sinne der griechischen Tragödie einer Antigone, sondern hier spricht eine Frau in der Kunst, die auf dem Boden, dem Grund ihrer Seele aufsetzt, und damit zutiefst wahrhaftig redet. 
Hier der Link zu ihrer Rede: https://www.festwochen.at/festwochen-2020-reframed-against-integration
Wer die Rede nicht nur sehen und hören, sondern auch lesen möchte, hier der zusätzliche Link zur deutschen Transkription ihrer Rede: https://www.derstandard.at/story/2000117523875/against-integration-dieser-wahnsinn-muss-aufhoeren

Großzügige Gastgeberin des schreibenden Herzens

„Der größte Raum der Welt ist ein DIN-A-4 Blatt Papier und ein Stift weiß mehr als ich.“ Diese Worte gehören Barbara Pachl-Eberhart. Autorin, Rednerin, Schreibpädagogin, LebensKünstlerin. Sie schenkte sie mir, als ich ihrem Vortrag „Wandelworte“ lauschte – zu finden in der Mediathek auf ihrer Website. Aber sie schenkte mir deutlich mehr. Indem sie mich mit dieser Metapher an das Schreiben als ein ganz besonderes, erfüllendes und zu füllendes Universum erinnerte, kam ich mir wieder selbst zuhanden und habe diese Worte hier geschrieben. 
Ihren zugewandten Weltenraum stellt sie sich selbst und jeder Leserin, jedem Leser zur Verfügung. Mit ihren vier Büchern. Drei habe ich gelesen und kann sie nur wärmstens empfehlen. 
In ihrem ersten Buch und doppelten Bestseller* „Vier minus drei“ lässt sie uns teilhaben an ihrer Trauerzeit, ausgelöst durch den eben nur fast unbeschreiblichen Verlust ihrer zwei Kinder und ihres Mannes infolge eines entsetzlichen Unfalls im Jahr 2008. Indem sie dieses Trauma schreibend verarbeitet und letztlich Leben und Tod auf einmalige Weise verbindet – drohend, am Verstummen von Worten zu ersticken und im lauten Schweigen zu versinken – verwandelt sie nicht nur den Tod ihrer Familie, sondern wird „selbst verwandelt“, wie sie es nennt. Mit ihrem zweiten Buch „Warum gerade du?“ lädt sie uns – ihre persönliche Erfahrung transformierend – ein, Trauer vollumfänglich und integrierend, durchaus alltagstauglich wie anderen zumutend zu begreifen. Sie klopft damit letztlich an die jedem Menschen innewohnende Kraft, in Trauer zutiefst lebendig sein zu können… Diese einladende Geste ist nicht nur ungemein tröstlich, so gütig geschrieben und nie wertend, sondern offen sowie gleichzeitig überaus präzise formuliert, sodass der Kopf wach ist, die Seele gestreichelt und der stimmige Bauch genährt werden. Ein rundum sattes Erlebnis. Schließlich stöbere ich immer wieder in ihrem Buch „Federleicht“ – ein ganzer Kosmos von Schreibgeschenken fürs Leben. DANKE, liebe Barbara Pachl-Eberhart, für diese hinreißenden Geschenke. Hier der Link zu ihrer Website: https://www.barbara-pachl-eberhart.at
*Spiegelbestseller und Jahresbestseller (2. Platz) in Österreich 2010

Schreiben mit links

Im ersten Schuljahr wurde ich von links auf rechts getrimmt – was meine Schreibhand betrifft. Ich frage mich immer wieder einmal – so auch eben heute in der Früh: Was wäre gewesen, wenn…? Was wäre gewesen, wenn ich als ausgesprochene Linkshänderin diese langen Jahre mit links geschrieben hätte? Glauben wir uns die Geschichten, die uns erzählt wurden, oder glauben wir vielmehr den Geschichten, die wir uns selbst erzählen? Und, sollten wir uns eher trauen als den anderen… erzähle ich mir selbst die Geschichten nicht auch immer wieder anders? In der Perspektive, vom Standpunkt her, in der Art und Weise, wie ich sie erzähle? Das heißt, welche Wörter ich zur Hand nehme, welche Assoziationen sie nahelegen und welche Wirkung sie somit entfalten?
Fakt ist, dass ich gezwungen wurde, rechts zu schreiben. Das war mühsam, tat weh – zumindest in der verkrampften Hand, im Arm, im Rücken – vermutlich noch woanders. 
Ich werfe, schneide, nähe, hämmere, spiele Tischtennis wie Federball und messere mit links. Anders geht es gar nicht! Und: Ich male mit links. Jedes Mal nehme ich zwar aus anerzogener Gewohnheit zuallererst den Pinsel, den Malstift in die rechte Hand und verpasse konstant den Moment, wenn er intuitiv in die linke Hand wandert. Das heißt, erstaunt registriere ich irgendwann, dass ich längst mit links male… Ich schwöre. So. Und genau hier setzt mein Denken an und meine Frage ein: Würde ich anders schreiben, denken, reden, Worte kreieren, wenn ich von Anbeginn mit links hätte schreiben dürfen? Schreiben ist ja ein zutiefst kreativer Akt, mein Lieblingsakt… Was wäre anders? Oder früher? Oder gar nicht anders in der Verbindung zur Wort- und damit zur Gefühlskreation, sondern im Leben? 
Mir ist bewusst, dass es darauf keine befriedigende Antwort geben kann. Nun, welches Ziel verfolge ich also mit meiner unbeantwortbaren Frage? Und ist sie überhaupt zeitgemäß? Spielt sie eine Rolle, wenn wir eh alle auf dem Computer beidhändig und damit gleichberechtigt schreiben? Was ist damals passiert im Kopf, im Gehirn – vielleicht sogar im Herzen? Hat es mich gestärkt fürs Leben, diese Hürde zu nehmen? Oder wurde damit eine Spur verlegt, die unauffindbar bleibt? Und mit diesen Fragen gelange ich wieder zum Anfang dieses Fragments: Wir konstruieren unsere Verfasstheit – je nach dem, wie wir uns unsere Geschichten erzählen – und in dem Fall, welche Hilfsantwort ich auf diese Fragen finde.
P.S.: Selbstverständlich kann ich noch mit links schreiben; aber das tue ich wiederum – offensichtlich ganz anders als beim Malen – nur ungern. Meine Schreibschrift gehört in die Grundschule; sie ist mir fremd. Oder werde ich mit dem Schmerz von damals konfrontiert? Und wie viele teilen diese Geschichte?… und schon könnte ich eine zweite Geschichte erzählen. 

Weder Fisch noch Fleisch aber Magie

Ich liebe das Semikolon. Ja, ich bin geradezu verliebt in dieses so selten verwendete Satzzeichen. Es ist weder Komma noch Punkt. Schon allein das Wort klingt nach Magie. Der Strichpunkt, wie das Semikolon auf profane Weise genannt wird, rührt an meine schreibende Seele. Das Semikolon ist in seiner Bedeutung schwächer als der Punkt; gleichzeitig ist es stärker als das Komma. Warum existiert es bloß? Mittels des Semikolon schaffe ich eine Verbindung und eine Trennung zugleich – aber sozusagen auf Augenhöhe, auf gleichberechtigter Ebene. Wie herrlich ist das denn! 
Mit diesem wunderbaren, einzigen Zeichen ; verfüge ich über eine zutiefst demokratische Dimension beim Schreiben. Ich verbinde zwei Sätze mittels Semikolon, wenn sie sich in ihrer Aussage ergänzen, ja wohlmöglich auch widersprechen mögen. Aber indem ich sie sprachlich wie bildlich weder in eine hierarchische Reihenfolge bringe – das schafft unter anderem das Komma – noch sie durch den Punkt, der das Satzende anzeigt, trenne, gelingt mir ein optischer Zauber, der nachwirkt und Resonanz findet. Nicht zuletzt auch dadurch, dass ich beim Komma das Verb schlabbern kann; beim Punkt brauche ich ein Verb, ein sogenanntes Tätigkeitswort; mit dem Semikolon, das ebenso nach einem Verb im Satz verlangt, erlaube ich mir, dass diese lebendigen Worte und Aussagen ebenbürtig schwingen. Und dieser Tanz gefällt mir. 

Wider volle Maskerade

Ab heute herrscht Maskenpflicht. Ganz offiziell. Ein Anlass, nicht über gekaufte oder selbstgenähte Schutzmasken nachzudenken, sondern über bewusst gewählte oder unbewusst angewandte im Alltag. Wann entscheide ich mich für eine Rolle, die ich spiele, statt für ein offenes Visier? Und ist in dem Fall gemeint, dass ich das Herz auf der Zunge trage oder meine Hände sanft auf mein Herz lege? Gibt es vielleicht sogar eine Alternative dazwischen? Oder sind die Rollen, die ich einnehme, schlichtweg Facetten meiner Persönlichkeitsstruktur und damit alle authentisch? Die, die privat ist; die, die öffentlich ist; die, die beruflich ist; die, die freundschaftlich ist; die, die nur mir gehört und nur von mir gelesen wird. Sind diese Persönlichkeitsaspekte klar abgegrenzt und festgezurrt bis hinter beide Ohren? Oder sind sie nicht vielmehr fließend, mal so und mal wieder ganz anders? Authentizität wird hier nicht als Dogma verstanden und damit überstrapaziert, sondern vielmehr als Gewissheit, sich echt und lebendig zu fühlen und damit als Original. Aber wer entscheidet über Original und Fälschung? Vielleicht geht es viel eher um adäquate Rollen? Aber wie ist dies wiederum vereinbar mit der Einzigartigkeit einer jedweden Person? In einer Welt voller Maskerade will ich nicht leben… Die Lösung liegt vermutlich darin verborgen, über den Schutz einer Maske nachzudenken: Wann ist eine Maske angesagt? Bei wem und wozu überhaupt? Und in welcher Situation und gegenüber welchen Menschen ist das offene Herz gleichbedeutend mit den wundersam ansteckenden Tröpfchen, die ein anderes Herz zart berühren? 

reden oder schreiben

„Schweigen ist Stille, aber nie Leere; es ist Klarheit, aber nie Farblosigkeit; es ist Rhythmus wie ein gesunder Herzschlag; es ist das Fundament allen Denkens und damit das, auf dem jedwedes Schöpferische von Wert beruht.“ Dieses Zitat stammt von Yehudi Menuhin, der nicht nur ein – wenn nicht gar der ‚Jahrhundertgeiger‘ war, sondern auch ein überzeugter wie überzeugender Botschafter der Humanität, der Kunst. Bei seinen Worten frage ich mich: Wenn das Schöpferische, das wertvoll ist, Schweigen und Stille voraussetzt, ist es dann unablässig, nicht über das zu reden, was man vorhat zu schreiben? Meine Erfahrung sagt ja. Reden ist eines. Schreiben ist etwas fundamental anderes. Das mag überraschen, aber wie oft sind Worte verloren, ja haben ihren Zauber bereits im Gespräch entzündet und wirken später fahl auf Papier. Wobei ich es sehr wohl mag, übers Schreiben zu reden; auch liebe ich den Vortrag geschriebenen Wortes sowie nach der Schöpfung – von wem auch immer – über geschriebene Worte zu sprechen – nicht nur über Wortschöpfungen;-)). 

Ich fürchte mich so vor der Doppeldeutigkeit

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“, das ist die erste Zeile des gleichnamigen Gedichts, das Rainer Maria Rilke 1898 schrieb. Und er führt fort: “Sie sprechen alles so deutlich aus.“ Ich erlaube mir mal, einige Zeilen meines hoch verehrten Dichters zu nehmen, ihm zuzustimmen und – ihn zu ergänzen. „Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort.“ Die ich immer präzise Formulierungen schätze und klare Sätze propagiere, fürchte mich vor dummen, populistischen Sätzen aufgrund falscher Fakten und eindimensionaler Deutung von komplexen Zusammenhängen. Ich fürchte mich vor diskriminierenden Worten und herabsetzender, abwertender Wortwahl sowie vor propagandistisch aufgeladener Kriegs-, Natur- und entmenschlichender Tiermetaphorik – auch schon vor Covid 19, vor AfD und weltweiter Krisen, die Menschen dazu veranlassen, ihr Land zu verlassen, um Krieg und Hunger zu entfliehen. 
„Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt gerade an Gott“, heißt es weiter im zweiten vierzeiligen Vers des wunderbaren Poeten. Genau: Ich fürchte mich vor dem Tweetgebaren selbsternannter Götter und damit unter anderem vor dem vom amerikanischen Volk demokratisch gewählten Präsidenten, wenn er – wie vor Tagen geschehen – postet: „Liberate Virginia, and save your great 2nd amendment. It is under siege.“ „Befreit Virginia, und rettet euren großartigen zweiten Verfassungszusatz (Anmerkung: er verbietet, den Besitz von Waffen einzuschränken). Er ist unter Belagerung.“ Unfassbar! Mit dieser Kriegsmetapher ruft Trump damit fast zu zivilem Ungehorsam auf, den ich geradezu mit Gandhi, Martin Luther King oder unserer Friedens- und Bürgerrechtsbewegung verbinde. 
Und: Ich fürchte mich – vor allem im persönlichen Kontext manches Mal noch um ein Vielfaches mehr – vor Doppelbotschaften, die zutiefst verwirren, die dazu angetan sind, sich selbst zu erhöhen, indem man den anderen erniedrigt. Die fragile, narzisstische Persönlichkeit setzt sich nicht mit ihren Schattenseiten auseinander, sondern verlagert die gestörte Beziehung zu sich selbst auf die zwischenmenschliche Kommunikation – meist zu sogenannt geliebten Menschen, um ihre Individualität, ihre Gabe, ihr Sosein zu zerstören. Diese Lieblosigkeit – scheinbar widersprüchlich zum Narzissten – letztlich sich selbst gegenüber, also der lieblose Umgang mit seinen eigenen wunden Punkten findet Einzug in die Beziehung zum anderen. Als Kind hast du da keine Chance – und Glück, wenn es ihnen nicht gelingt, dich zu verrücken.
Aber auch heute noch, wenn ich nicht aufpasse, dann rühren sie mich an, diese Doppelbotschaften, hinterlassen mich stumm und starr für Stunden, ja, ich kämpfe darum, dass sie mich nicht umbringen… Wie schreibt da der Dichter weiter: „Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: Sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um.“ Ich fürchte, nein ich will in Zukunft fern bleiben von Menschen mit Doppelbotschaften, und mich den Menschen mit der Sprache zuwenden, deren Worte andere Saiten zum Klingen bringen.   
P.S.: Ein Link zum Gedicht http://rainer-maria-rilke.de/020088fuerchtemichso.html

Bänke und Banken, Gesichter und Gesichte

Gesicht und Bank – auch diese beiden Wörter besitzen zwei Pluralformen. Ihr erinnert euch an meinen Blogbeitrag über die „Worte in den Wörtern“? Ein langjähriger Freund, von dem ich wusste, dass er mich bereichert, stiftete sie mir. 
Also: Die Bank kennt als Plural „die Banken“ und „die Bänke“. Wer, wie ich vorschnell einwenden mag: ‚Naja, aber damit sind ja zwei völlig verschiedene Dinge gemeint, nämlich einerseits die Bank fürs Geld und zum anderen die Bank zum Sitzen‘, der wäre ebenso wie ich bereits von meinem klugen Freund eines Klügeren belehrt worden. Der Ursprung des Wortes „Bank“ im Sinne eines Kreditinstituts reicht eben in die Ursprünge des Geldgeschäfts und des Geldwechsels zurück, die auf einem niedrigeren Tisch, eben einer Bank getätigt wurden. Übrigens italienischen Geldwechslern der Renaissance, die zu Zahlungen nicht mehr imstande waren, wurden ihre Tische zerschlagen (auf italienisch banca rotta), das uns das deutsche Wort „bankrott“ bescherte… 
Wenden wir uns dem Gesicht zu und siehe da, es gibt „die Gesichte“ und „die Gesichter“. Klar wird jedem sein gängiger Plural sein. Mit „Gesichte“ – ich kannte den Begriff nicht – hingegen sind Visionen gemeint, Vorausahnungen, Träume oder auch der (Aber)Glaube, Zukünftiges voraussehen zu können. Übrigens entwickelte sich aus „Gesichte“ die durchaus bekanntere Formulierung, jemand habe ein „zweites Gesicht“. Wie dem auch sei: Ich glaube, ich bin nicht die einzige, die in diesen Tagen gern Gesichte hätte und keine banca rotta, sondern vielmehr immer wieder gemütliche und freie,-)) im Park…