Der stille Ort – Version III –

Manchmal ist mir, als ob der stille Ort, jener Platz in mir, wo alles in Ordnung scheint, alles heil ist, immer war und immer sein wird, als ob der stille Ort laut ist. Um ehrlich zu sein, es gibt sogar Stunden, da ist mir, als ob dort jemand schreit. Klingt dramatisch. Ist es dann auch. 
Na, jedenfalls ist er heute alles andere als still. Was will da zu Wort kommen und von mir gehört werden? 
Ich mache mir Gedanken und fange an zu schwimmen. Falsch, so stimmt‘s nicht. Zuerst schwimme ich und fange später an zu denken. Balance ist das Stichwort, das ins Wanken geraten ist. Diese allseits gepriesene innere Stimmigkeit ist ins Ungleichgewicht geschlittert. Vermutlich schon länger, so lautet meine These, warum sich da jemand von diesem Ort aus unwiderruflich meldet und an mein Gehirn funkt: „Mach was. Kümmere dich. Tu endlich was.“ Zugegeben, der Ton ist streng, unangebracht, überflüssig.
Immer wieder lande ich bei der Frage, vielmehr bei den Fragen, die zumindest genau in diesen Momenten niemand beantwortet. Wann ist Zeit für Ablenkung , wann für Auseinandersetzung? Ruhe und Muße oder eher Bewegung und einfach nur raus? Was überfordert mich, was unterfordert mich? Spannung oder Entspannung aufbauen? Liegen oder laufen? Schlafen, lesen oder schreiben? Anpacken oder loslassen?
Und es geht durchaus noch weiter – darüber reden, jemand anrufen und einweihen, mich mittteilen oder eher schweigen, abwarten, spüren und aushalten? 
Ich gestehe: Menschen, die von ihrer stimmigen Balance anderen gegenüber lauthals verlautbaren, vom inneren Gleichgewicht predigen, sind mir zutiefst suspekt. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass diejenigen, die wirklich in sich ausgeglichener unterwegs sind, es gar nicht in den Sinn kommt, darüber zu preisen. Stimmig scheint ihnen, dass es eben jene schwimmende Momente gibt. Das Pendel schlägt mal stärker, mal schwächer aus – das gehört dazu, wenn man balanciert und bisweilen bilanziert. 
Manches ist im Lot, anderes im Scheinlot, und es darf korrigiert oder gar gegengesteuert werden; einiges ist instabil und erzeugt Schwindel. Dies zählt unvermeidlich zur Schwerkraft und braucht Zuwendung; jenes zählt zur Fliehkraft und darf gehen. Kurzum: Sie sind sich der widersprüchlich wirkenden Kräfte bewusst. 
Diese Erkenntnis hilft mir in solchen Momenten wie heute Morgen ehrlich gesagt wenig… was mir jedoch immer bleibt, ist die Gewissheit: Es gibt ihn, den Ort – nach wie vor. Er geht definitiv nicht weg. Und ich darf alles – nach innen lauschen und im Außen wägen, Erschöpfung wahrnehmen und kraftschöpfend suchen. So ist es nämlich: Was letztlich bleibt, ist, sich auszuprobieren, was in dem Augenblick – und sei es, dass er über Stunden im Zweifel steht – guttun könnte und vielleicht wieder stückchenweise ausgleicht, vielleicht aber auch erst einmal nicht. Es ist okay, wie es ist.

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