Die Antigone des Amazonas

Nicht selten wird bei einer Krise an die griechische Tragödie erinnert. Warum? Weil man hofft, dass sich das Publikum des Schauspiels einer Katharsis unterzieht. Übertragen auf die Welt außerhalb des Theaters bedeutet dies, uns als Protagonisten unseres Alltags und unserer Gesellschaft zur Beteiligung zu bewegen. Indem wir als eben als ‚beteiligte‘ Zuschauer – so die grundlegende Definition der Poetik nach Aristoteles – all das Drama, den Schrecken, Tod, Unrecht und Unheil auf der Bühne miterleben, kann sich eine verändernde Haltung entfalten. Mit der Chance zu mehr Feingefühl und Reflexion der eigenen zerstörerischen Anteile. Mit der Chance, sich gegen Missstände und Ungerechtigkeit aufzulehnen sowie für humanitäre Ziele einzusetzen. Mit dem Ziel: die drohende Katastrophe in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft abzuwehren, um den Untergang zu verhindern. Zugegeben, das ist hier sehr verkürzt dargestellt, aber das ist mir bewusst. Worauf ich hinauswill, ist der Hinweis auf die beeindruckendste Rede in Coronazeiten: die Online-Eröffnungsrede der Wiener Festwochen durch Kay Sara. 
Uns ist Kay Sara vor allem als indigene Aktivistin bekannt, die sich lange vor Covid19 mit Haut und Haar der Rettung des Amazonas mit all ihren Konsequenzen verschrieben hat. Aber sie ist eben deutlich mehr. „Wie jeder bin ich eine Mischung aus vielem: Ich bin Tukana und Tariana, eine Frau, eine Aktivistin, eine Künstlerin. Ich spreche als all das zu Ihnen,“ sagt sie selbst und erklärt, was ihr Name bedeutet: „Die sich um andere sorgt.“ Ihre Sorge teilt sie also in dem Fall in Personalunion als Antigone des Amazonas und als indigene Aktivistin mit ihrem virtuellen Publikum. Und, wie sie es schafft, in knapp zwölf Minuten ihre Finger klar, verständlich, nachvollziehbar, unwiderlegbar und unwiderruflich auf die Wunden zu legen, die mit der Abholzung der Regenwälder verbunden sind, ist einmalig. Dramaturgisch sensationell aufbereitet. Ich meine dies aber nicht im künstlerischen Sinne der griechischen Tragödie einer Antigone, sondern hier spricht eine Frau in der Kunst, die auf dem Boden, dem Grund ihrer Seele aufsetzt, und damit zutiefst wahrhaftig redet. 
Hier der Link zu ihrer Rede: https://www.festwochen.at/festwochen-2020-reframed-against-integration
Wer die Rede nicht nur sehen und hören, sondern auch lesen möchte, hier der zusätzliche Link zur deutschen Transkription ihrer Rede: https://www.derstandard.at/story/2000117523875/against-integration-dieser-wahnsinn-muss-aufhoeren

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