Archiv der Kategorie: Augenblicke & Blickwinkel

Freud‘ und Leid

Im Moment tagtäglich konfrontiert mit Statistiken, die wir hinterfragen, für die wir zuweilen nach Vergleichszahlen recherchieren und die als Maßstab für Maßnahmen herhalten, fallen mir zwei Rechnungen aus Kindertagen ein, die sich längst vor meiner Zeit als Redewendungen etablierten und die in meiner Erziehung als Imperativ dienten: Geteilte Freude ist doppelte Freude; geteiltes Leid ist halbes Leid. Wie kann eine mathematische Gleichung zu zwei so diametral entgegengesetzten Ergebnissen führen? … einfach von der Logik her. Und was ist mit der Realität? Und wozu diese Moral?
Damals wie heute gibt es so viel Neid auf Freude, auf persönlichen Erfolg oder einen glücklichen Zufall, auf eine hart erarbeitete Errungenschaft, eine geschenkte Gabe oder Begabung statt zweifach Freude? Ja, manchmal reicht schlichtweg gute Laune, die sich in der Begegnung zusammenzieht, statt wächst. 
Und ich kann mir mitnichten vorstellen, dass ein afrikanisches Kind, das Hunger leidet, mein Mitgefühl spürt; und falls ich mir das Unwahrscheinliche doch vorstelle, hat es noch lange nichts zu essen. 
Auch damals, wenn Erwachsene ihr Leid klagten, ging es ihnen da wirklich um meine Empathie für ihre Situation oder nicht vielmehr um etwas ganz Anderes? Nun gut. 
Wie ist es heute? Vor zwei Tagen erzählte mir eine Freundin von ihrem Glück über die innigen Stunden mit ihrem Freund. Es war wunderbar, ihre strahlenden Augen zu sehen, die von innen lachten, aber ob sich ihre Freude verdoppelte, indem ich meine Freude darüber aussprach, bezweifele ich sehr. Diese Macht habe ich nicht. Sie machte mir eher ein Geschenk… ist das mit ansteckender Freude gemeint? Wobei, ich kenne es durchaus auch umgekehrt… und jemand, da freute sich die Tage alles an diesem Menschen und sogar weit über beide Ohren hinaus, als ich über etwas erzählte, was mich zutiefst begeistert. 
Mit dem geteilten Leid verhält es sich durchaus komplexer. Sind da nicht eher Taten angetan als Gedanken und wiederholte Worte? Und mal ehrlich: Gibt es nicht immer Menschen, die mehr leiden? Unbedingt! Ja, die Würde des Menschen wird seit Jahrhunderten angetastet, auch wenn es anders geschrieben steht. Das behalte ich im Auge und freue mich, wenn ich eigenverantwortlich unterwegs bin und auf Menschen treffe, deren Freude ich spüre und deren Herzohr mir bisweilen geschenkt wird. 

P.S.: … statt 100 Worte mehr als 300 Wörter und welche Taten?…

Im Dialog mit Mutter Erde

Coronazeit ist auch – Kino on demand-Zeit: Wenn ihr einen Film voller Wunder sehen und gleichzeitig euer Programmkino unterstützen wollt, lege ich euch einen Film nahe, der eigentlich im Mai seine Deutschlandpremiere haben sollte und nun online verfügbar ist: https://www.kino-on-demand.com/movies/dialogue-earth „Dialogue Earth“ von Regisseur Hank Levine mit der Musik von Volker Bertelmann alias Hauschka. Ich würde ihn sehr wohl empfehlen, auch wenn Ulrike Arnold nicht meine Freundin wäre, auch wenn ich keinen kleinen dramaturgischen Anteil an seiner Entstehung beigetragen hätte… beides trifft zu, aber darum geht es mir nicht. Vielmehr verbindet uns der Dokumentarfilm über die künstlerische Arbeit und das Leben von Ulrike mit der unversehrten Welt der Schöpfung, die durch Mensch und Maschine, durch Raubbau und Umweltzerstörung verletzt wird, aber in und mit ihrer Kunst ein Paradies auf Erden bedeuten kann. Ulrike Arnold ist eine außergewöhnliche Künstlerin, eine Weltenreisende, eine Genesis-Nomadin, die seit rund 40 Jahren unberührte Orte auf allen fünf Kontinenten aufsucht, mitunter monatelang fern jedweder Zivilisation lebte, um mit und in Kooperation mit der Natur, mit erdenen Steinen und Pigmenten vor Ort bei jedem Wind und Wetter zu malen. Seit bald 20 Jahren gesellt sie zur irdischen Materie den kosmischen Werkstoff von Meteoriten, also über vier Milliarden Jahre alten Sternenstaub hinzu…
Übrigens eine meiner Lieblingsszenen ist der Monolog eines Navajo-Indianers über ihr Werk. Aber seht selbst! 12 Euro für diese Premiere statt 5 Euro für jeden ‚alten‘ Film sind es mehr als wert zu investieren. Denn der rund 80-minütige Ausflug in ihre Welt verspricht ein wenig Heilung für unsere Welt. 
P.S.: Und wer noch etwas lesen möchte über Ulrike Arnold, dem sei mit „Earth & Stars“ folgendes Faltblatt ans Herz gelegt: https://www.bettinadornberg.de/wp-content/uploads/2020/04/FaltblattUlrikeArnold2020.pdf

Tägliches Lesevergnügen

Coronazeit ist – auch Kreativzeit. Leute, die ihr bei Facebook seid, geht mal auf https://www.facebook.com/christoph.berdi . Da schreibt mein Identitätsstifterkollege jeden Tag über ein Album, das er uns ans Herz legt und uns somit zum Hörvergnügen einlädt. Berührend, bereichernd und begründet. Tiefsinnig und versiert. Leidenschaftlich und Laune machend. Er wandelt quer über alle Genres: von Pop über Jazz, von Klassik zu Rock. Da schreibt jemand von seiner Seele her, ein in die Musik zutiefst Verliebter, der seine Liebe zu dieser wundervollen Kunst mit uns teilt. Und nicht nur das: er gibt Orientierung über Musikgeschichtliches, Klangfarbe und Interpretation, über Herkunft und Hintergrund von Komponisten, Band, Songtextschreiber und noch mehr… All das mit einer Leichtigkeit und Begeisterung geschrieben, die spürbar werden in jedem Wort. Genau das ist es, was Liebe – sprachlich umgesetzt – vermag: sie ist ansteckend.  

Mal ehrlich;-))

Vor einer Weile gab mir jemand einen gut gemeinten Rat: „Na, Erwachsene lügen halt. Das ist doch völlig normal. Alltag. Nichts Außergewöhnliches.“ Das gehöre sozusagen zum Erwachsensein dazu. Man könnte auch sagen: Das kennzeichne Erwachsene…
Das empfand ich – ungelogen – in dem Moment erstaunlich. 
Heute denke ich: Ja, stimmt. Es gibt diesen einen ersten Moment, da fangen Kinder an, Erwachsene zu imitieren. Sie nehmen sie sich zum Vorbild und beginnen zuweilen – eben, wie die anderen – zu lügen.
Die, die mich gut kennen, wissen um meinen kindlichen Wunsch: „Bitte mich nicht anlügen!“ Mir soll man mitnichten alles erzählen – um Himmelswillen nein! Aber das, was man erzählen mag, möge bitte ehrlich gemeint sein. Selbstverständlich schließt dies Kritik mit ein. Das mag durchaus mal richtig weh tun, aber es birgt die Perspektive auf Beziehung, echte (Ver)Bindung und Begegnung mit dem anderen und mit sich selbst. Alles andere ist ein Sterben in Raten.

an andere oder über andere denken

Diese Zeit ist dazu angetan, an andere zu denken, wenn wir uns nicht treffen können – ja nicht treffen dürfen und gerade einmal nicht miteinander telefonieren können oder wollen. Das ist gut so. Das ist völlig okay so. An andere zu denken heißt für mich oft, in den Himmel zu schauen – sogar mich bisweilen zu justieren per Kompass – und einen innigen Gruß mit Wünschen zu schicken. Mich an vergangene Begegnungen zu erinnern und mir zukünftige auszumalen. 
Es gibt aber auch das Denken über andere – nicht selten mit Wertung, mit Irritation. Das bindet. Das Verbindende in der Beziehung rückt in den Hintergrund und fesselt die Energie. Vorgestern war so ein Moment und gestern Früh tauchte er prompt erneut auf: zwei Menschen, zwei sich grundlegend widersprechende Erzählungen. Einer von beiden sagt mir nicht die Wahrheit. Ja lügt. Wer erzählt hier nicht die Wahrheit? Und noch wichtiger: Wozu? Mit welcher Absicht? Oder erinnert einer falsch oder hat die andere es in dem Moment wohlmöglich vergessen? Wie damit umgehen? Nachfragen? Konfrontieren? Mit welcher Haltung? Heute? Später? Nie? Welche Rolle wird mir hier zugedacht in diesem Spiel? Noch konkreter: Welche Rolle spiele ich in dieser Beziehung? Oder noch anders: Welche Rolle spielt diese Beziehung der beiden untereinander für mich? Mehr als 240 Wörter und in einer Dreiviertelstunde sicher mehr als tausend Gedanken hab‘ ich mir selbst angetan und gebunden. Zwar bin ich noch nicht um eine Antwort reicher, aber um eine Haltung: Hätte ich doch lieber an jemand gedacht

Worte in Wörtern

Immer wieder bin ich damit beschäftigt, dass das Wort Wort zwei Pluralformen kennt: Worte und Wörter. Sind auch bei anderen Wörtern zwei Arten des Plurals bekannt? Mir fallen keine Wörter ein, aber damit ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Eher beginnt genau hier ein Reigen voller Worte.
Und immer wieder sortiere ich in meinem Kopf, was sie genau – in einfachen Worten und prägnanten Sätzen mit wenig Wörtern formuliert – differenziert… Wir alle besitzen Passwörter, aber wünschen uns hin und wieder Zauberworte. Wir benutzen Modewörter oder Schlagworte und geben Widerworte. Wir sprechen manches Mal sogar Machtworte und erzählen uns von unseren Lieblingswörtern. Wir versenden Grußworte und sprechen Trostworte; viele versprechen einander Jaworte und jeder von uns hat seine Reizworte. Und manche schreiben Vorworte. Diejenigen, die schreiben, erklären zu selten Fremdwörter, streichen hoffentlich Füllwörter, bauen ihren Beitrag entlang von Schlüsselworten auf – vor allem im Essay. Manche von ihnen haben vor alledem Stich- respektive Schlagworte notiert, um einen flüssigen, schlüssigen Text mit oft vorgegebener Anzahl von Wörtern überhaupt schreiben zu können. Ich liebe das Spiel mit Worten, die – wie in dem Fall hier – nicht aus rund 100, sondern aus mehr als 230 Wörtern besteht. Trotzdem subsumiere ich diese Fragmente bewusst unter dem Titel „rund hundert Worte“: Mein Anliegen ist es, im Spiel mit Wörtern den in ihnen wohnenden Ausdruck der Worte zum Klingen zu bringen. Ja – Worte haben Musik, machen Sinn und so unendlich viele sind bezaubernd sinnlich.

Ostern besonnen

Ostern. Auferstehung Jesu. Als getaufte Christin überlege ich, was heute für mich auferstanden sein könnte. Auch die Bedeutung des jüdischen Pessachfests – die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei nach dem 2. Buch Mose und damit die Verbindung einer jeden Generation mit der Befreiungserfahrung – ist dazu angetan, mir Gedanken darüber zu machen, was mich befreien könnte. Und was ist aufgetaucht? Besonnen – als Wort. Auf einmal lag es auf den Lippen, sprudelte aus dem Herzen, in der Waagschale meines Gedankenblitzes begleitet von unerschütterlichem Erstaunen. 
Was für ein wunderschönes Wort! Nicht nur Wärme und Licht, Gelassenheit und Ruhe, Muße und Zugewandtheit birgt es für mich – ich lerne über google durchaus freudig von klugen Männern dazu: Für Sokrates bedeutet Besonnenheit, das Seine zu tun und damit das Gute zu tun – und weiter sei damit eigentlich die ‚Gesundheit des Zwerchfells‘ gemeint, in dem der Sitz der Seele vermutet wurde. Für Platon zählt sie neben der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der Klugheit zu den vier Kardinaltugenden; für Konfuzius ist sie eine der zentralen Ideale; für Epikur die Voraussetzung für Seelenfrieden. Und für Johann Gottfried Herder ist Besonnenheit „ein menschlicher Zustand, der gleichbedeutend mit Reflexion ist und daher zum ersten Mal frei wirkend die Sprache erfunden habe“. Genau, das ist es. Heute frei gefunden in meiner Sprachwelt und in der Tat wirkend – und dabei ein wenig auferstehend und befreiend. 

schwer, aber pur

Manches Mal mag ich meine düsteren Stunden. Ja. Da fühl ich mich weder defizitär, noch nicht okay und fordere von mir auch nicht, dass es anders sein müsste. In diesen Stunden wird niemand verantwortlich gemacht für irgendetwas. Weder das Wetter noch die widrigen Umstände, weder jemand Anders noch ich selbst. Wenn dem so ist, dann spüre ich mich authentisch, lebendig, ohne Maske, pur, durchaus schwer, aber präsent. Manchmal meldet sich auch die kleine Bettina und möchte getröstet oder einfach nur gehalten werden. Das ist völlig in Ordnung. Natürlich genieße ich mehr die Momente mit der Kleinen unterwegs zu sein – in Irland als Schafhirtin und eins zu sein mit der Natur, mit Geburt und Sterben, mit Hund und dem Hüten, mit Wiese, Blumen und Berg. Aber es gibt eben auch diese anderen Gezeiten – und wenn es mir gelingt, mich und die Kleine in diesen Stunden einfach nur sein zu lassen, als wahr zu nehmen, dann sind sie manches Mal eben sogar fruchtbar und letztlich nicht hell, aber erhellend. Versprochen. 

Hausarrest

Mit der Kontaktsperre tauchte urplötzlich eine Erinnerung auf, die mir seit mehreren Jahrzehnten – ja, so alt bin ich schon – in den Sinn kam: Hausarrest. Mit Hausarrest hatten meine Eltern in meiner Kindheit und Jugend eine der treffendsten Strafen gesucht, gefunden und immer wieder auch verhängt. Für was? Daran kann ich mich wiederum nicht erinnern. Klar war nur: Kein Klettern auf Bäume, kein Versteckspielen in unserem „Geheim“, kein Rennen, Atmen, Sein; keinen Kontakt zu meinen Freundinnen und Freunden. Nur pflichtbewusst zum Musikunterricht und umgehend wieder nach Hause – das sollte sein. Dies traf mich bis ins Mark – das ist ein Klischee. Ja, die Strafe war wirklich wirkungsvoll. Denn Hausarrest war gleichbedeutend, dem Dunklen, dem Schweren daheim nachmittags nicht fliehen zu können. Vermutlich liebte ich auch deswegen die Schule, aber das ist ein anderes Thema. 
Und die äußere Bewegungseinschränkung und das Kontaktverbot zum rettenden Draußen verschmolzen zu einer Starre rundum– angefüllt mit Worten, die ich nicht verstand und die mir Angst machten. Das ist lange her. Ja, und trotzdem wurde es lebendig, als ich die Tage trotz wunderschönstem Wetter nicht raus bin, aus meiner Wohnung. Habe mir ganz offensichtlich selbst Hausarrest auferlegt – und die Frage, für was ich mich da etwa bestraft haben könnte, will mir auch heute partout nicht einfallen. 

unbändig und unvernünftig

Heute übt alles Verbotene eine unbeschreibliche Anziehungskraft auf mich aus. Hier und jetzt umgehend einen Flug nach Neapel buchen und nach Procida rüberschiffen. Was sag ich! Hier und jetzt den Rucksack packen, los zum Flughafen und den nächsten Flieger einfach nehmen. Mich ins Auto setzen und ins Tal bei Hinterstein fahren. Grenzen-los wandern. Oder nach Südtirol? Gipfel besteigen. Oder ans Meer – in Holland. Eine Rundreise antreten und meinen Freundinnen und Freunden spontan und am besten allen gleichzeitig einen Besuch abstatten. In Freiburg. Berlin. Frankfurt. Hamburg. Südfrankreich. Leipzig. Zürich. Oder auch schlicht schon in Düsseldorf und Umgebung. Diese unbändige Lust etwas Unvernünftiges zu tun… Warum ist sie heute größer als in sichereren Zeiten?